Die gefühlte Realität und die statistisch erhobene Realität sind oft zwei verschiedene Paar Schuhe. Das beweisen einmal mehr die neuesten Zahlen zur Lohnentwicklung im Kanton Tessin. Bei der Bevölkerung, in den Medien und auch in den sozialen Netzwerken herrscht die Meinung vor, mit der Einführung des freien Personenverkehrs und der Zunahme von Grenzgängern seien die Löhne unter Druck gekommen und allgemein gesunken: Verarmung, grössere Arbeitslosigkeit und mehr Grenzgänger, die zu Dumpinglöhnen arbeiten. Keine Frage, auf dem Tessiner Arbeitsmarkt gibt es Probleme. Wer die Arbeit verliert, soll unterstützt werden, denn für Arbeitswillige ist Arbeitslosigkeit dramatisch – gerade für die Jungen, die voller Elan in die Arbeitswelt eintreten und das Gelernte anwenden möchten. Oder für jene, die eine Familie durchzubringen haben. Doch die Fälle lassen sich nicht verallgemeinern. Die wirtschaftliche Grundlage des Tessins hielt der Herausforderung eines offeneren Marktes stand und blieb solide.
Das kantonale Amt für Statistik hat Anfang Juni die neuesten Zahlen zur Lohnstrukturerhebung veröffentlicht, die alle zwei Jahre aktualisiert wird. Die erste Erhebung stammt von 2000, vor dem Inkrafttreten der bilateralen Abkommen am 1. Juni 2001. Der Bruttomedianlohn (der die Lohnempfänger in zwei gleiche Hälften teilt, die eine verdient weniger, die andere mehr) lag damals bei 4357 Franken pro Monat. 2014 lag er bei 5125 Franken. Nominal sind die Löhne also um 17,6 Prozent gestiegen. Der Bruttomedianlohn der Grenzgänger lag 2000 bei 4084 Franken und 2014 bei 4523 Franken und ist damit um 10,7 Prozent gestiegen. Diese Statistik bezieht sich ausschliesslich auf den Privatsektor.
Ausserdem hat die Tessiner Wirtschaft in dieser langen Zeitspanne zwei Rezessionen oder mindestens Stagnationen des Bruttoinlandprodukts durchgemacht hat: Zuerst 2002/2003 und dann 2009. Daraus lassen sich drei Dinge ablesen: Es hat keinen Lohndruck nach unten gegeben, sondern vielmehr sind die Löhne gestiegen. Die Löhne der Ansässigen sind stärker gestiegen als jene der Grenzgänger, und obwohl deren Zahl stark zugenommen hat, sind auch ihre Löhne gestiegen, wenn auch weniger stark als jene der ansässigen Arbeitnehmer. Die Zahlen zeigen, dass es um den Arbeitsmarkt im Tessin nicht so schlimm steht, wie es oft empfunden wird. Es gibt viele Gründe, warum Empfinden und Statistik auseinanderklaffen. Warum die Diskrepanz aber gerade im Tessin so ausgeprägt ist, das wäre eine eigene Studie wert.

Marina Masoni, articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 26 giugno 2016

Pubblicato il: 04/07/2016