Die italienische Schweiz und das Tessin sind auch weiterhin nicht im Bundesrat vertreten. Der offizielle SVP-Kandidat Norman Gobbi ist am 9. Dezember nicht gewählt worden. Ungeachtet der Sympathien oder Antipathien gegenüber Gobbi ist dies in einem föderalistischen Staat kaum nachvollziehbar. Der bis heute letzte Tessiner Bundesrat, Flavio Cotti, ist 1999 aus der Landesregierung geschieden.
Im neuen Jahrtausend fanden italienische Sprache und Kultur noch nie Einzug in die «oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes», wie es in Artikel 174 unserer Bundesverfassung heisst. Aber was steht dort eigentlich genau? Analog zu der französischen heisst es in der italienischen Fassung, die verschiedenen Landes- und Sprachregionen «devono essere equamente rappresentate». Wörtlich übersetzt: Sie «müssen» dort «gleichmässig» (oder: «gerecht») vertreten sein. Die deutsche Version der Verfassung klingt – zumindest für Nichtdeutschsprachige – etwas weniger stringent und verbindlich: Es «ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind». So lautet auch die rätoromanische Fassung. Hier zeigen sich die Vor- und Nachteile des sprachlichen und kulturellen Föderalismus und der Juristensprache: Als die Stimmbürger der italienischen Schweiz die revidierte Bundesverfassung annahmen, taten sie dies in der Überzeugung, dass dieses Grundgesetz ihrer geografischen und sprachlichen Region, also der dritten Schweiz, garantiere, nicht aus dem Bundesrat ausgeschlossen zu bleiben. Nur wenige dürften nachgeprüft haben, was in dem Verfassungsartikel wirklich steht.
Was versteht sich aber unter «equamente» oder «angemessen» vertreten? Gewiss nicht, dass das Tessin ständig Anrecht auf einen Bundesrat hat. Doch dass das Tessin mehr als vier Legislaturperioden hintereinander ausgegrenzt bleibt, lässt sich nur schwer mit dem Konzept der fairen Vertretung der dritten Schweiz vereinbaren. Trotzdem haben die eidgenössischen Räte so entschieden. Da wurde eine Chance vertan.
In ganz Europa erleben wir zentrifugale Kräfte und Spannungen. Die Schweiz ist dagegen nicht immun, auch wegen des Drucks von aussen. Warum wurde die Chance zum Miteinandergehen, zu unserem echten und einzigartigen Föderalismus, nicht gepackt, die zudem ausgerechnet von der SVP ausging, einer Partei, der man kaum nachsagen kann, sie gebe äusserem Druck nach? Die Mehrheit des Bundesparlaments war am 9. Dezember wenig weitsichtig und wenig schweizerisch.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 13 dicembre 2015
Pubblicato il: 18/12/2015