In zwei Wochen wird der neue Gotthardbasistunnel eingeweiht. Das ist – ohne jede Übertreibung – ein historischer Moment. Fast so wie 1847, als der Staudamm bei Melide für den Strassenverkehr geöffnet wurde und die beiden Ufer des Luganersees miteinander verband (die Bahn folgte 1874). Oder wie am 23. Mai 1882, als der Gotthard-Eisenbahntunnel in Betrieb genommen wurde, die Pionierleistung von Alfred Escher, dem grossen Förderer des Schweizer Bahnverkehrs. Oder ein Moment wie am 5. September 1980, als Bundesrat Hans Hürlimann den Strassentunnel durch den Gotthard als schnellste Verbindung zwischen dem Norden und dem Süden unseres Landes einweihte. Ein weiterer Meilenstein wird dereinst die zweite Autobahnröhre durch den Gotthard sein, die am 28. Februar von Volk und Ständen deutlich angenommen wurde.
Das ist das Tessin der grossen Verkehrsinfrastrukturen, die den Kanton italienischer Sprache und Kultur mit den anderen verbindet. Das Tessin, das beim Verkehr und beim Handel offen für Europa sein will. Ein reales, pragmatisches, weitsichtiges Tessin, das nichts mit dem gängigen negativen Image des verschlossenen Eigenbrötlers zu tun hat. Ein Grenzkanton, der über die beiden Barrieren, der natürlichen im Norden und der grenzpolitischen im Süden, hinausschaut, der sich nicht hinter ihnen verbergen will aus Furcht vor irgendwelchen äusseren Bedrohungen, sondern der an ihnen wachsen will.
Die Mehrheit der Tessiner wollte immer Tunnel und Brücken bauen, um diese Barrieren zu überwinden, ohne ihre Existenz und ihren Zweck zu leugnen: Das Tessin sah sie als Chance, um an der sozialen und wirtschaftlichen Realität der Schweiz teilzuhaben und gleichzeitig die gemeinsame Kultur mit Italien zu pflegen.
An der Feier vom kommenden 1. Juni werden höchste Regierungsvertreter aus dem In- und Ausland – François Hollande, Angela Merkel oder Matteo Renzi – zugegen sein, was gerade in dieser für das Tessin und die Schweiz delikaten Phase einen hohen Symbolwert hat: Eine Grenzregion und sprachliche Minderheit steht im Zentrum eines kolossalen Bauwerks, das den eidgenössischen Zusammenhalt stärkt, die Distanzen verkürzt und nach Italien ausgerichtet ist. Wir werden an jenem Tag viel Rhetorik zu hören bekommen, doch hat sie dieses Mal einen grossen historischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gehalt. Wir werden uns alle etwas mehr als Schweizer fühlen, und wir Tessiner auch etwas mehr als italienische Schweizer. Die Worte werden nicht an die Stelle der Tatsachen treten, sondern diese in Würde hüllen.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 15 maggio 2016
Pubblicato il: 20/05/2016