Kann der Liberalismus im Tessin noch als treibende politische Kraft angesehen werden? Obwohl sich viele diese Frage stellen, ist sie bis anhin noch nicht bis in die politischen Debatten vorgedrungen.
Trotz den blutigen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert, der mühseligen Suche nach einem Gleichgewicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Spaltung in der Zwischenkriegszeit war die liberal-radikale Partei des Tessins immer ausschlaggebend für die Modernisierung des Kantons. Diese liberale Weltanschauung wurde indes unterschiedlich interpretiert und umgesetzt; parteiintern debattierte man zwar immer wieder hitzig, aber die führende Rolle der FDP als Garantin für liberale Werte und Methoden war nie bedroht. Weder die Proteste im Jahr 1968 noch die Ideologien der siebziger Jahre, noch der Aufstieg der Lega dei Ticinesi ab 1991 konnten der Leadership der FDP etwas anhaben.
Die Wende kam mit den Kantonalwahlen 2011: Die FDP verlor im Kanton einen Regierungssitz an die Lega. Dann ebenso in der Stadt Lugano. Beide Resultate wurden in den nachfolgenden Wahlen bestätigt. Dabei geht es um viel mehr als nur um eine Veränderung der Parteienlandschaft. Heute werden das Tessin und seine Gesetzgebung nicht mehr von liberalen Idealen geleitet, die Beziehung zwischen Staat und Bürger gründet immer weniger auf Freiheit, Verantwortung und Vertrauen. Der Liberalismus ist in der Defensive und hat im Grenzkanton gegenüber dem Legismus an Terrain verloren. Die FDP findet im Tessin nicht mehr die Kraft, ihre Werte hochzuhalten. Das Tessin, das sich dank den Bilateralen und der liberalen Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte wirtschaftlich geöffnet hatte, igelt sich ein. Es herrscht eine Politik der Nabelschau, die auch die Freiheiten beschneidet. Zur Sanierung der Kantonsfinanzen werden die Steuern und Abgaben erhöht und neue eingeführt. Nicht nur die Unternehmen und die Freiberuflichen kommen unter Druck, sondern auch der Mittelstand und überhaupt das Eigentum und die Einkommen. Auch in der Politik der anderen Parteien ist wenig vom einstigen Liberalismus übrig geblieben. Und derzeit weht in ganz Europa ein wenig hilfreicher Wind. Vielleicht steht der Liberalismus am Scheideweg: Auferstehung oder Niedergang.
Der Legismus war – anders als viele dachten – keine Eintagsfliege. Heute geht der Etatismus im Tessin quer durch alle Parteien. Staatsgläubigkeit hat allerdings noch nie Möglichkeiten eröffnet. Es braucht eine Rückbesinnung auf den authentischen Liberalismus, um zu verhindern, dass bestehende und neue Chancen verpasst werden.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 2 ottobre 2016
Pubblicato il: 07/10/2016