Zu viel Verkehr, zu viele Autos, zu dreckige Luft: So stellen sich viele das Tessin vor. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Es stimmt zwar, dass mit dem Wachstum der Bevölkerung und der Wirtschaft auch der Verkehr und die Fahrzeugdichte im Südkanton zugenommen haben. Aber es stimmt nicht, dass die Luftverschmutzung schlimmer geworden ist. Im Gegenteil. Die Luftqualität wird von Jahr zu Jahr besser. Das jedenfalls schreibt das Dipartimento del territorio in seinem jüngst veröffentlichten Bericht «L’aria cambia. Qualità dell’aria in Ticino» (Die Luft verändert sich – Luftqualität im Tessin).
Der Bericht dokumentiert die Entwicklung von 1990 bis 2015. In diesen 25 Jahren «wurden konstante Fortschritte beobachtet», wie es heisst. Die Hauptschadstoffe Schwefeldioxid und Kohlenmonoxid gingen um 75 bis 80 Prozent zurück. Das vorwiegend verkehrsbedingte Stickstoffdioxid sank um 30 Prozent, seit in den neunziger Jahren der Katalysator eingeführt wurde. Auch die Feinstaubpartikel PM10 verringerten sich um 30 Prozent. Sogar das gefürchtete Ozon ist gesunken, wenn auch mit 8 Prozent etwas weniger stark. Diese Zahlen bestätigen einmal mehr, dass die Tessiner “bravi automobilisti“ sind. Die Luftverbesserung ist der Technologie zu verdanken, also Katalysatoren und saubereren Motoren.
Diese Resultate sind umso bedeutender, als das Tessin mit seiner Autobahn ein Transitkorridor ist und sich der öffentliche Verkehr im Kanton wegen der zerklüfteten Berglandschaft nur schwer organisieren lässt (viele Tessiner können ihren Arbeitsplatz nicht ohne Auto erreichen). Ausserdem gibt es in der benachbarten Lombardei viel Industrie und einen stark umweltbelastenden Auto- und Lastwagenverkehr. Dennoch wollen die Tessiner Kantonsbehörden die Luft weiter verbessern, besonders bezüglich der Immissionen, welche die Grenzwerte der eidgenössischen Luftreinhalteverordnung überschreiten.
Die Realität lehrt uns, dass Fortschritt auch ohne die Beschneidung der individuellen Freiheit erzielt werden kann. Für Liberale ist dies sogar ein Grundsatz. Doch die Politik nimmt immer weniger Rücksicht auf die Grundwerte des Liberalismus. Das Dipartimento del territorio will künftig im Winter in Gegenden mit einer erhöhten Luftbelastung ein Teilfahrverbot für gewisse Nummernschilder sowie autofreie Sonntage einführen. Die Vorschläge befinden sich derzeit in der Vernehmlassung. Sie kommen nicht etwa aus dem Lager der Grünen, sondern vielmehr von der Lega dei Ticinesi. Offenbar verändert sich im Tessin nicht nur die Luft, sondern auch die Politik.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 7 agosto 2016
Pubblicato il: 16/08/2016