Wer wird im Tessin die eidgenössischen Wahlen gewinnen? Die Lega dei Ticinesi? Oder der Partito liberale radicale? Das Duell ist dasselbe wie bei den kantonalen Wahlen im April, denn die politischen Gleichgewichte im Tessin haben sich seit Jahren deutlich verschoben. In gewisser Weise ist es eine ähnliche Entwicklung wie auf nationaler Ebene, wenn auch mit den spezifischen Aspekten eines Grenzkantons.
Die historische Tessiner Rivalität zwischen Freisinnigen und Christlichdemokraten lebt nur noch in den Herzen der alten Garde weiter. Die CVP ist heute nicht mehr stark genug, um der FDP die Stirn zu bieten. Noch Anfang 1995 besetzte sie zwei der fünf Staatsratssitze; dass sie den nach dem Aufstreben der Lega verlorenen Sitz zurückgewinnen könnte, glaubt heute kaum jemand. Im Gegenteil: Die Tessiner CVP sucht einen neuen Präsidenten und kann den steten Verlust von Wählern und Sitzen nicht stoppen.
Auch die Sozialistische Partei ist keine wirkliche Gegenspielerin: In den vergangenen Jahren hat die SP im Tessin einen immer dogmatischeren Weg eingeschlagen. Die Wählerschaft aus der Mitte entfernt sich zusehends von ihr. Bei zentralen Themen – etwa die Beziehung zur EU oder der Notstand bei der Migration – hat die Linie der Partei auch viele treue Linkswählerinnen und -wähler enttäuscht. Die Tessiner SP spielt nur eine Nebenrolle. Wie die CVP verliert auch sie stetig Wähler und Sitze.
Die Protagonisten auf dem Schachbrett der kantonalen Politik sind also die Lega und die FDP – hier eine soziale und oft etatistische Rechte, dort ein Liberalismus auf der Suche nach einem volksnäheren Profil unter Beibehaltung seiner Prinzipien. Für die Wahlen im Oktober werden die Freisinnigen alles aufs Spiel setzen, um einen Sitz dazuzugewinnen (was sie bei den Kantonalwahlen verpasst hatten). Deshalb ist der Kantonalpräsident Rocco Cattaneo ins Rennen gestiegen, der Unternehmer, der die Zügel der Partei nach einer langen Phase interner Kämpfe in die Hand genommen hat. Wenn es ihm nicht gelingt, drei FDP-Vertreter in den Nationalrat zu schicken, droht er einen der beiden Amtierenden zu verdrängen.
Die Lega bringt einen neuen Namen für den Ständerat und will dank Listenverbindung mit der SVP die bisherigen Sitze der beiden Parteien im Nationalrat (Lega: zwei, SVP: einen) verteidigen. Der politische Wind weht derzeit zugunsten des Legismus, der die Sorgen der Bevölkerung besser wahrnimmt und zur Sprache bringt. Um die Probleme des Landes zu lösen, wäre jedoch mehr Liberalismus erforderlich. Das ist das Tessiner Dilemma. Der Rest ist Beilage.

Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 6 settembre 2015

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Pubblicato il: 11/09/2015