Das Tessin ist kein politischer Sonderfall, im Gegenteil. Es ist ein ganz normaler Kanton. Das haben die eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober gezeigt. Die SVP hat auf nationaler Ebene zugelegt und ist mit fast 30 Prozent Stimmenanteil die stärkste Partei. Im Tessin sieht es ähnlich aus, allerdings hat die SVP hier zwei Seelen, wie das der Financier Tito Tettamanti treffend ausgedrückt hat: die eigentliche SVP – und die Lega dei Ticinesi. Gemeinsam haben die zwei Parteien ebenfalls einen Sprung nach vorne gemacht und erreichen 30 Prozent der Wählerstimmen. Bei den eidgenössischen Wahlen hat die Lega im Tessin etwa doppelt so stark abgeschnitten wie die SVP; bei den kantonalen Wahlen war sie fünfmal so stark.
Das Parteiprogramm, die Standpunkte und die Prioritäten von Lega und SVP decken sich zu 95 Prozent: Gemeinsam bilden sie die stärkste politische Kraft im Tessin, auch wenn die Lega in der Regierung sitzt und die SVP in der Opposition. Die Wurzeln für den Wahlerfolg der SVP auf nationaler Ebene und den Erfolg von Lega und SVP im Tessin sind die gleichen: Europaskepsis, Argwohn gegenüber den Bilateralen oder gar deren Ablehnung, Beschränkung der Einwanderung, strengere Asylpolitik, Opposition gegen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (weder die nationale SVP noch die Tessiner Lega und die SVP wollten die BDP-Vertreterin im Bundesrat haben).
Institutionell gibt es allerdings einen grossen Unterschied zwischen dem Bund und dem Tessin: Die Landesregierung wird vom Parlament gewählt, die Kantonsregierung vom Volk. Auf kantonaler Ebene kann nur das Volk die Kriterien für die Vertretung in der Exekutive verändern. Die proportionale Vertretung, ein Eckpfeiler des schweizerischen und des Tessiner Modells – das Tessin wählt als einziger Kanton seine Regierung im Proporz –, kann nicht verbogen werden: Die stärkste Partei hat auf diese Weise zwei Sitze in der Regierung; kein parlamentarisches Manöver kann diese Massgabe für die politische Vertretung umschiffen oder aushebeln. Die populärste Partei ist im Tessin auch in der Exekutive am stärksten vertreten.
Das hochgelobte Proporzsystem sorgt für proportionale Verhältnisse. Im Tessin ist es mathematisch unmöglich, dass eine Partei mit einem Wähleranteil von 4 Prozent in der Regierung gleich stark vertreten ist wie eine Partei mit 30 Prozent, ja die 4-Prozent-Partei würde gar nicht erst in die Exekutive einziehen. Auch die Vereinigte Bundesversammlung in Bern kann sich da vom politischen Bellinzona eine Scheibe abschneiden: Der Volkswille ist zu respektieren, auch ohne eine Direktwahl des Bundesrates.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 1° novembre 2015
Pubblicato il: 06/11/2015