Es heisst, die Statistik zeige verzerrte Bilder. Doch aufmerksam betrachtet, gibt sie uns wertvolle Informationen zum besseren Verständnis der Wirklichkeit. Und sie ist oft zuverlässiger als unsere Gefühle und individuelle Wahrnehmungen, welche die Realität eher bruchstückhaft erfassen.
Soeben ist das statistische Jahrbuch 2016 des Tessins veröffentlicht worden. Unter den Abertausenden von Zahlen wollen wir uns jene für das Kino anschauen. Das Tessin ist ja auch Gastgeber des internationalen Filmfestivals von Locarno, das dieses Jahr zum 69. Mal stattfindet. Im kulturellen Leben des Grenzkantons nimmt die Filmkunst einen wichtigen Platz ein. Wie viel Kino konsumieren die Tessinerinnen und Tessiner?
Wichtig zu wissen: Die Statistiken erfassen nur die Zuschauer in den Kinosälen, nicht jene zu Hause vor dem Fernseher oder vor anderen Geräten. Es zeigt sich, dass die Krise in diesem Sektor auch den Kanton italienischer Sprache und Kultur erfasst hat. In den fünf Jahren von 2009 bis 2014 ging die Zahl der Kinobesuche markant zurück, von 509 549 Besuchern im Jahr 2009 auf 315 267 im Jahr 2014. Das entspricht einem Einbruch von 38 Prozent. Die neuen Technologien machen sich bemerkbar: Heute kann jeder Filme aus dem Internet herunterladen und sie irgendwann und irgendwo gemütlich anschauen. Dennoch wurde überraschenderweise das Angebot für die Liebhaber der Grossleinwand nicht reduziert, im Gegenteil. Im Tessin gibt es 14 Kinokomplexe mit insgesamt 25 Sälen. Das sind gleich viele Abspielstätten wie 2009. Die Zahl der Tessiner Erstaufführungen hat sogar zugenommen: 2009 waren es 136, im Jahr 2014 waren es 156 Filme (die Hälfte davon aus den USA). Alle zwei Tage wird also im Tessin ein neuer Film gezeigt. Für einen Kanton mit 350 000 Einwohnern ist das viel. Trotzdem kann dieses Angebot die Abwanderung der Zuschauer nicht verhindern.
Eine Ausnahme gibt es jedoch: das Filmfestival in Locarno mit dem wunderbaren und einzigartigen Open-Air-Kino auf der Piazza Grande. Tatsächlich ist im Zeitraum zwischen 2009 und 2014 die Zahl der Festivalbesucher in Locarno gestiegen, von 157 057 auf 166 800 Besucher – um ganze sechs Prozent. Das Filmfestival lebt von der Anziehungskraft des Kinos als gemeinschaftliches Grossereignis.
Die Tessiner Kinowelt hat also zwei Gesichter: Auf der einen Seite unterliegt sie dem allgemeinen Trend, der sich in kalten Zahlen ausdrückt, auf der anderen Seite vollbringt sie eine Trendwende mit einer weit über die eigene Region hinaus reichenden Ausstrahlung.

Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 3 aprile 2016

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Pubblicato il: 08/04/2016