Die Tessiner Wirtschaft hält sich momentan auch dank der Marktöffnung. Probleme gibt es zwar genug, doch sie lassen sich einfacher angehen, solange die Wirtschaft weiterhin wächst. Die Politik hingegen neigt vermehrt dazu, die Marktöffnung als Ursprung allen Übels zu betrachten – und die Abschottung als Allheilmittel. Dieser Trend gibt zu denken.
Am 25. Januar hat der Tessiner Grosse Rat ohne Gegenstimmen (67 Ja, 13 Enthaltungen) die Volksinitiative «Prima i nostri» (Die Unseren zuerst) für gültig erklärt. Die Vorlage wird also vors Volk gelangen, nachdem das Parlament seine Abstimmungsempfehlung abgegeben haben wird. Lanciert wurde die Initiative von der SVP, fast 11 000 Bürger haben sie unterschrieben. Was will sie? Sie beauftragt den Kanton, dafür zu sorgen, dass auf dem Arbeitsmarkt die ansässige Bevölkerung den Vortritt hat. Damit wird de facto das Prinzip der Bevorteilung der Schweizer, das mit der vollständigen Anwendung der bilateralen Abkommen abgeschafft wurde, wieder eingeführt. Die kantonale Initiative wurde nach dem Erfolg der eidgenössischen Masseneinwanderungsinitiative lanciert, die am 9. Februar 2014 im Tessin mit 68,2 Prozent der Stimmen angenommen worden war. Nach einem längeren juristischen Seilziehen sind sich die Fachleute noch immer uneinig über die Verfassungskonformität der kantonalen Vorlage. Tessiner Regierung und Parlament entschieden am Ende nach dem Prinzip in dubio pro populo. Der Hauptgrund dafür war, dass die Tessiner SVP vorschlug, die Bevorzugung der ansässigen Arbeitskräfte in den sozialen Zielen der Kantonsverfassung festzuschreiben. Wenn der Staat die Vollbeschäftigung zu seinen sozialen Zielen erhebt, bedeutet dies ja nicht, dass jeder Arbeitslose vor Gericht vom Staat eine Stelle fordern kann. Es ist ein allgemeines Ziel, auf das der Staat nach Kräften hinarbeitet.
Für die Volksinitiative der SVP gilt dasselbe: Ein Kanton darf nicht höheres Recht verletzen und weder die Unternehmen zwingen, im Tessin wohnhafte Arbeitsuchende zu bevorzugen, noch sie daran hindern, auswärtige Arbeitnehmer einzustellen. Er kann höchstens die Wirtschaft dahingehend sensibilisieren. Zumindest solange die bilateralen Verträge mit der EU in Kraft bleiben. Die Initiative ist also sehr unrealistisch: Sie verspricht viel und hält wenig. Doch sie entspricht dem Zeitgeist. Die protektionistische Abschottung wird als einzige Lösung gesehen, um die Probleme in den Griff zu bekommen: ein weiteres Zeichen für das politische Unbehagen im Tessin in Zeiten der Bilateralen, der Öffnung und der wirtschaftlichen Veränderungen.
Marina Masoni /Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 7 febbraio 2016
Pubblicato il: 12/02/2016