Die Rechtsprechung gehört zu den wichtigsten und delikatesten Aufgaben eines demokratischen Staates. Die Justiz muss nicht nur gerecht sein, sondern auch als gerecht wahrgenommen werden. Als gerecht und glaubwürdig wird die Justiz aber nur empfunden, wenn die Prinzipien der Gleichbehandlung und Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben. Andernfalls wird das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert und – zumindest in den sozialen Netzwerken – nimmt die Rede von der Selbstjustiz bedrohliche Ausmasse an. Dies passiert im Tessin besonders bei zwei Deliktsarten immer häufiger: Bei Kindsmissbrauch und bei der Verletzung der Strassenverkehrsregeln.
Dazu zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: Im Februar wurde ein Autofahrer zu einer bedingten Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt, weil er auf der Autobahnausfahrt von Manno bei Lugano mit einer Geschwindigkeit von 121 statt der erlaubten 60 Kilometer pro Stunde fuhr. Für nicht Ortskundige: Die Ausfahrt ist zweispurig, hat Leitplanken und liegt ausserhalb des Wohngebietes. Im Juni wurde ein Primarschullehrer wegen Kindsmissbrauchs (sexuelle Übergriffe und Nötigung dreier Schüler) sowie Verletzung der Aufsichtspflicht zu 14 Monaten Gefängnis bedingt verurteilt. Da der Lehrer bereits ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen hatte, sprach ihm das Gericht eine Haftentschädigung zu. Der Staatsanwalt hatte hingegen drei Jahre und neun Monate Gefängnis gefordert. Die Tessiner Bevölkerung reagierte auf das Urteil mit teilweise massiver Empörung.
Tatsächlich verursacht ein Vergleich der beiden Strafurteile Kopfschütteln. Im ersten Fall wurde nichts und niemand weder beschädigt noch verletzt. Gemäss unserem Gesetz nahm der Autofahrer allerdings das abstrakte Risiko in Kauf, jemandem grossen Schaden zuzufügen. Im zweiten Fall wurde ganz konkret Schaden zugefügt. Die ausgesprochenen Strafen unterscheiden sich dennoch nur um zwei Monate. Ist das gerecht? Wurden da die Prinzipien der Gleichbehandlung und der Verhältnismässigkeit respektiert? Das ist schwer nachvollziehbar.
Im Tessin sind das keine Einzelfälle. Natürlich ist das geltende Recht zu respektieren; über fehlbare Personen ist dennoch im Sinne der Verhältnismässigkeit zu urteilen. Wenn das Gesetz dies nicht zulässt, sollte ernsthaft über das Gesetz selbst nachgedacht werden sowie über das Rechtssystem, über die Strafandrohungen, den Spielraum und die Kriterien für die Zumessung der Strafen. Es gilt zu handeln, bevor das Vertrauen der Bevölkerung in das Justizwesen gefährlich erschüttert wird.

Marina Masoni / articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 21 agosto 2016

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Pubblicato il: 26/08/2016