Eine kleine Kirche, ein grosser Schritt in die Zukunft und ein Blick zurück, ohne die Vergangenheit zu verklären, sondern um aus ihr neue Wege abzuleiten: das ist die Kirche von Mogno im Val Lavizzara. Einst stand dort das Kirchlein San Giovanni Battista zu Ehren Johannes des Täufers, ein Kleinod aus dem 17. Jahrhundert, das am 25. April 1986 von einer Lawine zerstört wurde.
Der Blick zurück zeigt den harten Alltag eines abgelegenen Bergdorfes. Der Blick nach vorne zeigt ein Tessin, das sich bei Problemen und Rückschlägen immer wieder neu erfindet. Die neue Kirche von Mogno wurde von Mario Botta entworfen und vor zwanzig Jahren eingeweiht, 1996, genau zehn Jahre nach dem Niedergang der zerstörerischen Lawine. Heute gehört die Kirche zu den schönsten Symbolen dieses Tessins, das sich immer wieder aufrichtet, ohne sich dabei zu verleugnen. Der doppelte Jahrestag wurde Ende Juni im Beisein von Bundesrat Alain Berset gefeiert. Die Ansprachen und der öffentliche Dialog zwischen Berset und Botta gaben viele Denkanstösse. Heute schauen alle mit Bewunderung und sogar Stolz auf die Kirche von Mogno. Dieses erstaunliche religiöse Monument war allerdings ursprünglich sehr umstritten – auch das gehört zur Tessiner Identität.
Die Auftragsvergabe an Mario Botta schlug damals hohe Wellen. Sein Projekt löste in der Bevölkerung und in der Politik hitzige Diskussionen aus. Botta ist aufgrund seiner Kreativität und Genialität solche Anfeindungen eigentlich gewohnt, doch damals waren die Reaktionen besonders heftig: «Dieses Projekt hat durch seine Entschiedenheit und Kraft mehr als alle anderen im ganzen Land ideologische Diskussionen und heftige Polemiken ausgelöst, die gewiss in keinem Verhältnis zum Bau selbst stehen», schrieb Botta 1999 in seinen Gedanken zur Kirche von Mogno. Sie zeugen von der Weisheit und der Bescheidenheit eines grossen Architekten.
Tatsache ist, dass die Diskussionen rund um Mogno weit über das Gebäude als solches hinausgingen: Identität und Modernität, Erhaltung und Erneuerung, Tradition und Wandel. Diese Dialektik gehört zu jeder reifen Gesellschaft. Im Tessin kann sie jedoch erstaunlich viel Staub aufwirbeln. Der Grenzkanton, sprachliche Minderheit auf der Nord-Süd-Achse zwischen den zwei Wirtschaftsmächten Zürich und Mailand, wankt zwischen der Angst, Sicherheiten einzubüssen und es nicht mehr zu schaffen, und dem Mut sowie dem Vertrauen in die eigenen Mittel und Fähigkeiten. Die kleine grosse Kirche von Mogno kann als Sinnbild für dieses Tessin gesehen werden.

Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 10 luglio 2016

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Pubblicato il: 15/07/2016