Endlich kommt aus dem Tessin eine konstruktive Haltung, ein durchdachter Vorschlag, kein Gejammer und kein Selbstmitleid. Das ist das Mindeste, was man über das Modell des Tessiner Staatsrates zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sagen kann.
Wenige Tage nach dem Vorschlag des Bundesrates für eine Schutzklausel hat das Tessin seine eigene Klausel präsentiert. Ihr Hauptvorteil? Sie ist für die EU wahrscheinlich eher akzeptabel, weil sie ohne fixe Höchstzahlen und Kontingente auskommt. Ob sie auch akzeptabel genug ist für die 28 EU-Staaten, für die der freie Personenverkehr auf dem Arbeitsmarkt wesentlich ist, wissen wir nicht. Aber wir sollten die kommenden Monate mit vernünftigem Optimismus angehen und nichts unversucht lassen.
Der Schweizer Souverän hat am 9. Februar 2014 an der Urne seine Meinung zur Zuwanderung ausgedrückt. Die Sorgen, die diesem Entscheid zugrunde liegen, lassen sich in ganz Europa erkennen, wie die Wahlresultate bei den Europa-, National- oder Regionalwahlen in vielen EU-Ländern zeigen. Die EU-Staaten werden auch ihren eigenen Bevölkerungen gegenüber mehr Verständnis und Bereitschaft für eine Lösung zeigen müssen. Die Tessiner Klausel schränkt zwar den freien Personenverkehr ein, sowohl bei Grenzgängern als auch Einwanderern, allerdings vernünftiger und diversifizierter – und trotzdem im Sinne des Volkswillens. Als Antwort auf den neuen Verfassungsartikel 121a lanciert die Tessiner Regierung das Thema Schutzklausel neu mit einem Modell des früheren Staatssekretärs Michael Ambühl, das den sektoriellen und regionalen Zustand des Arbeitsmarktes als Ausgangspunkt für allfällige Massnahmen nimmt. Italien dürfte dieses Modell nur schwerlich akzeptieren. Dort rumort es bereits wegen des neuen Abkommens über die Besteuerung von Grenzgängern; jede zusätzliche Einschränkung für diese Arbeitnehmenden wird auf grossen Widerstand stossen. Und bei der Einwanderung wird es nicht leicht sein, von Brüssel die Zustimmung für die eine oder andere Variante der Schutzklausel zu erhalten, denn die Schweiz und einige Kantone stehen punkto Arbeitslosigkeit und Lohnniveau deutlich besser da als andere Länder.
Wir sind am Scheideweg: Der Volksentscheid vom 9. Februar 2014 strapaziert die Bilateralen. Was, wenn die EU unsere Vorschläge ablehnt? Kündigen wir dann die Personenfreizügigkeit? Der neue Verfassungsartikel sieht keine Kündigung, sondern Neuverhandlungen mit der EU vor. Natürlich besteht da das Risiko, dass Brüssel unsere Ideen ablehnt. Vielleicht hat das Tessin aber auch das Ei des Kolumbus gefunden.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag, il 20 marzo 2016
Pubblicato il: 26/03/2016