Wie sähen die Schweiz und das Tessin heute aus, wenn sich im letzten und vorletzten Jahrhundert der Widerstand gegen die Verbindungswege in den und im Süden durchgesetzt hätte? Wir hätten keinen Seedamm von Melide, keine alte Eisenbahnlinie durch den Gotthard, keinen Autobahntunnel zwischen dem Tessin und der restlichen Schweiz und weder eine Neat durch den Gotthard noch einen Basistunnel am Ceneri.
Dieselbe Frage lässt sich auch für andere Landesregionen stellen, die Antwort bleibt die gleiche: Ohne Verbindungen hätten wir heute eine weniger schweizerische Schweiz. Der Austausch zwischen den Landesteilen wäre nicht so rege, man wäre einander fremd. Es wäre eher ein Nebeneinander als ein Miteinander.
Bei der kommenden Volksabstimmung über die Sanierung des Gotthardtunnels geht es nicht so sehr um technische oder ideologische Fragen, sondern darum: Wollen wir unsere Verbindungsmöglichkeiten auch in Zukunft stärken und den Bedürfnissen einer wachsenden, vernetzten, offenen und auch sichereren Gesellschaft anpassen? Auch die Neat-Vorlage wurde damals mit einem Referendum bekämpft. Der Bundesrat musste in einer sehr schwierigen Abstimmungskampagne das Stimmvolk von der Notwendigkeit einer schnellen Nord-Süd-Bahnverbindung durch die Alpen (Gotthard sowie Lötschberg/Simplon) überzeugen. Was würden wir heute tun, wenn sich damals dieselbe Einstellung durchgesetzt hätte, die nun die zweite Gotthardröhre verhindern und die bestehende Röhre für eine lange Zeit schliessen will? Denn an der Tunnelsanierung kommen wir nicht vorbei. Weiterhin eine einzige Röhre mit Gegenverkehr beizubehalten, ist keine Lösung. Die Autobahn zwischen dem Tessin und der übrigen Schweiz darf nicht drei Jahre lang gesperrt bleiben, auch nicht zwei, auch nicht ein Jahr. Das Tessin soll nicht noch einmal die Tragödie von 2001 erleben müssen, als der Tunnel nach einem Unfall lange gesperrt blieb. Nur eine zweite Röhre kann uns vor solchen Szenarien schützen.
Die Bundesverfassung und das Gesetz untersagen eine Kapazitätserweiterung. Die gibt es auch nicht: Zwei ausschliesslich einspurig befahrene Röhren mit je einem Pannenstreifen, das ist die verfassungskonforme Lösung von Bundesrat und Parlament. Die Nichtlösung der Gegner ist hingegen nicht vereinbar mit den Bedürfnissen unseres föderalistischen Staates, der sich mühevoll in einem Territorium mit vielen natürlichen Barrieren entwickelt hat. Die Überwindung dieser Barrieren darf nicht behindert, sondern muss gefördert werden. Dies gilt für das Tessin und die ganze Schweiz.
Marina Masoni / Articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 24 gennaio 2016
Pubblicato il: 29/01/2016