Können wir heute im Tessin von einem Wirtschaftswunder sprechen? Das scheint etwas hoch gegriffen,
typisch für die Repubblica dell’iperbole, für das Land der Exzesse, wie der Schriftsteller Francesco Chiesa unseren Kanton nannte. Doch bei einer näheren Betrachtung der momentanen Wirtschaftszahlen ist das Bild wohl nicht ganz verfehlt: Die Beschäftigung im Tessin steigt, und die Arbeitslosigkeit sinkt, trotz Aufgabe des Mindestkurses zum Euro. Die neusten Zahlen bekräftigen den positiven Trend, der sich bereits in den letzten Monaten abgezeichnet hat. Das ist erstaunlich. Denn die Fakten sprechen da offenbar eine andere Sprache als die Befindlichkeit in der Bevölkerung.
Schaut man auf die langfristige Entwicklung im Tessin seit der Überwindung der Krise der neunziger Jahre und dem Eintritt in die Ära der bilateralen Verträge mit der EU, sieht man, dass der Kanton stark von der grösseren Marktöffnung profitiert hat. Natürlich gibt es auch negative Aspekte (wie die übermässige Zahl von Grenzgängern, die padroncini genannten Kleinstunternehmer, Fälle von Niedrigstlöhnen oder die steigende Zahl von Sozialhilfeempfängern), doch die Daten zeigen klar einen positiven Gesamttrend. Die Mehrheit der Tessinerinnen und Tessiner hat immer gegen die Bilateralen gestimmt, die es doch der Wirtschaft gerade ermöglicht haben, sich zu erholen.
Die Arbeitslosenquote lag Ende September im Tessin bei 3,4 Prozent, in der ganzen Schweiz bei 3,2 Prozent. Vor einem Jahr betrug sie im Tessin 3,9 Prozent, in der Gesamtschweiz 3,0 Prozent. Auf der Alpensüdseite ist die Arbeitslosigkeit also gesunken, in der übrigen Schweiz gestiegen. Heute liegt das Tessin im Vergleich mit den anderen Kantonen bei der Höhe der Arbeitslosigkeit an achter Stelle. Bis vor kurzem war es unter den ersten drei oder vier Kantonen.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Beschäftigung: Im zweiten Quartal 2015 zählte das Tessin 188 000 Beschäftigte, so viele wie noch nie. Am Tiefpunkt der neunziger Jahre, 1999, waren es nur 148 000. Die Zahl der Beschäftigten ist also in 16 Jahren um 27 Prozent gestiegen, obwohl der Finanzplatz an Bedeutung verloren hat und der Tourismus leidet. Dieser Aufwärtstrend schlägt sich in den kantonalen Steuereinnahmen nieder, die so hoch sind wie noch nie. Das sind Tatsachen. Die schwierigen Beziehungen mit Italien, das Abstimmungsergebnis vom 9. Februar 2014 und die fragliche Zukunft der Bilateralen gefährden die vielen schrittweise erreichten Errungenschaften der vergangenen zwanzig Jahre. Das Tessiner Wirtschaftswunder würde eine Abschottung kaum überleben.

Marina Masoni / articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 18 ottobre 2015

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Pubblicato il: 25/10/2015