Die individuelle Bewegungsfreiheit gehört zu den grössten Errungenschaften unserer offenen Gesellschaft. Zu verdanken haben wir sie dem Fortschritt bei den gesetzlich gewährleisteten Individualrechten einerseits und bei der Technologie andererseits. Heute wird diese Freiheit aber kontinuierlich angegriffen: nicht offen und direkt, sondern schleichend, was viel gefährlicher ist. Schritt für Schritt versucht man sie im Namen eines nicht näher definierten Gemeinwohls oder Allgemeininteresses zu beschneiden. Diese rückschrittliche Politik hat es auch auf die Freiheit zum Autofahren abgesehen, obwohl die heutigen Fahrzeuge viel sicherer und weniger umweltbelastend sind als früher, wie die Statistiken zeigen.
Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation hat mit dem Konzeptbericht Mobility-Pricing einen weiteren Schritt in diese Richtung getan. Und die Tessiner Kantonsregierung ist erstaunlich behende vorgeprescht. Sie hat sich – oder besser: die Tessiner Verkehrsteilnehmer – als Versuchskaninchen für das Pilotprojekt zur Verfügung gestellt. Unter anderem sieht der Konzeptbericht eine sogenannte City-Maut vor, also eine Einfahrgebühr für die Innenstadt. In einigen europäischen Grossstädten wird ein solches Mobility-Pricing bereits angewendet, zum Beispiel in Schweden. So weit, so gut. Doch Schweden hat ein ganz anderes Territorium, andere Zahlen, eine andere Geschichte und eine andere Auffassung von Individualrechten und Steuern.
Zurück zum Tessin: Stellen wir uns eine Gebühr vor für alle, die mit dem Auto nach Lugano fahren wollen. Bereits heute leidet die wirtschaftliche Hauptstadt des Tessins unter dem Ausbleiben von Touristen, Besuchern und Konsumenten. Je nach Tageszeit und Wochentag ist die Stadt halb leer. Die negative Parkplatzpolitik der vergangenen Jahre ist da mitverantwortlich dafür. Warum will man die Einfahrt in die Stadt erschweren? Will man durch einen Steuerwall jene Personen fernhalten, die sich mit ihrem Auto frei bewegen? Das wäre ein Rückschritt ins Mittelalter, als die Pestkranken vor die Stadtmauern verbannt wurden.
Vor Jahren machte Architekt Mario Botta einen Vorschlag für Lugano: ein langes Parkhaus unter dem See, um die Autofahrer unmittelbar vor dem Stadtzentrum unterzubringen und die Seepromenade zu entlasten. Eine schöne, zukunftsgerichtete Idee. Geschehen ist nichts. Vielmehr will man heute in die andere Richtung gehen, zurück zu den Beschränkungen und Abschottungen der Vergangenheit. Mehr Kontrollen, weniger Freiheiten. Und mehr Steuern.

Marina Masoni / articolo apparso sulla NZZ am Sonntag il 4 ottobre 2015

Scarica l’articolo

Pubblicato il: 09/10/2015